Die Kunstfigur des alten Hofrats Geiger ist vielen noch im Gedächtnis. Zumindest jener Generation, die mit dem „Mariandl“ aufgewachsen ist. Doch der ebenso reale wie geniale Auto-Designer Friedrich Geiger ist heute kaum jemandem ein Begriff. Obwohl er vor allem in den 1960er Jahren die stilsichere Bekleidung vieler Mercedes-Modelle geprägt hat. Auch jene des W113. Nur dessen pagodenartiges Dach war eine Kreation von Paul Bracq.
Es gibt immer einen letzten „echten Mercedes“. Aus heutiger Sicht dürfte es für die meisten Daimler-Fans Bruno Saccos Meisterwerk sein, die S-Klasse W126. Oder, etwas bescheidener, der 1984 eingeführte W124 mit dem „futuristischen“ Einarm-Scheibenwischer. Doch anfangs zeigte sich die konservative Klientel über den Nachfolger des soliden W123 ganz anderer Gründe wegen schockiert: Das schmucklose Äußere des W124 erschien ihnen schwer gewöhnungsbedürftig. Von den abfällig „Sacco-Bretter“ genannten Seitenschutz-Leisten gar nicht zu reden.
Heute lässt sich wohl nicht mehr bestreiten, dass das zeitlose Design des W124 jenes der folgenden E-Klasse-Modelle in den Schatten zu stellen vermag. Ein Schicksal, das die Stuttgarter freilich mit etlichen anderen Autoherstellern teilen. Das treffendste Beispiel dafür ist klarerweise die „Göttin“ DS, mit der uns Citroën immerhin durch eine 20-jährige Bauzeit erfreute. Stilistischen Haupttreffern von „Brot-und-Butter“-Marken wie Ford resp. Taunus (die legendäre „Badewanne“ P3) oder Opel (der Rekord D alias Rekord II) war dagegen nur eine verhältnismäßig kurze Bauzeit beschieden.
Mit all diesen Limousinen hat der bildschöne Mercedes-Roadster W113 etwas ganz Wesentliches gemein: Er ist der – optisch – gelungenste Wurf seiner Gattung. Kein anderer davor und danach kreierter SL-Typ ist ebenso grazil wie puristisch gezeichnet und strömt annähernd so viel Noblesse wie der 113er aus. Schließlich stammt er aus einer Epoche, die wie keine andere das Selbstverständnis und die Identität der Marke mit dem Stern widerspiegelt. Vor 50 Jahren, im März 1963, feierte er als 230 SL auf dem Genfer Automobil-Salon seine Premiere. Übrigens nur wenige Monate vor dem Porsche 911, seinerzeit noch als 901 präsentiert, bevor Peugeot wegen der Nomenklatur Einspruch erhob. Keine Frage: Der 63er Jahrgang ist für „Herrenfahrer“ ein besonders guter gewesen.
Auch ein Onkel des Autors dieser Zeilen hat sich dieser Fahrerzunft zugehörig gefühlt. Vom Design des 230 SL, dessen Entwurf aus der Feder des begnadeten Karosserie-Schneiders Friedrich Geiger stammte, war er auf Anhieb begeistert. Leider hat Geiger nie die Popularität anderer namhafter Mercedes-Designer wie Paul Bracq und Bruno Sacco erreicht, die zuvor schon erwähnt wurden. Immerhin ist Bracq als Erfinder des – hohen – Pagoden-Dachs (auf das noch näher eingegangen wird) verantwortlich dafür, dass sich besagter Onkel wegen der hervorragenden Kopffreiheit für den Kauf eines W113 entschloss. Allerdings erst 1967, als der drehmomentstärkere 250 SL auf den Markt kam, weil der ebenfalls 150 PS starke 230 SL den Ruf hatte, nicht „vollgasfest“ zu sein.
So kam es zum Austausch des eleganten 250 SL durch einen „plumpen“ 250 CE
Und bei aller Verklärung alter Zeiten – von der technischen Perfektion heutiger Automobile war der W113 noch Lichtjahre entfernt. Mir ist noch bestens in Erinnerung, weshalb der 250 SL beim Onkel bald in Ungnade fiel: Es war im Sommer 1969, als ich mit meinen elf Lenzen für den „Abstecher“ Wien–Salzburg auf dem Beifahrersitz Platz nehmen durfte. Doch ein plötzlicher Stau auf der A1 erforderte aus Tempo 180 eine Notbremsung, auf die das Auto alles andere als souverän reagierte. Die berüchtigte Eingelenk-Pendelachse war solchen Manövern nicht wirklich gewachsen.
Ein knappes Jahr später (für damalige Mercedes-Lieferzeiten also so gut wie „prompt“) wurde der 250 SL durch einen Strich-Achter resp. W114 mit hochmoderner Schräglenker-Hinterachse ersetzt. Konkret durch einen motorisch adäquaten 250 CE, mit dessen „plumper Linienführung“ sich mein Onkel zwar nie anfreunden konnte (Bestseller-Schöpfer Paul Bracq dürfte solch eine Kritik mittlerweile kaum noch tangieren), doch das sichere /8-Fahrverhalten ließ den Verlust des einstigen Traumwagens bereits beim ersten Wochenend-Ausflug verschmerzen: „Der liegt ja um Welten besser als der SL!“ Auch dieser Kommentar des Onkels hat sich in mein Gedächtnis gemeißelt.
Wenn schon nicht fahrwerkstechnisch, so hat der W113 auf jeden Fall in Sachen passiver Sicherheit seinerzeit Maßstäbe gesetzt – dem großen Béla Barényi sei Dank: Der 230 SL war der weltweit erste Sportwagen, dessen Karosserie über eine steife Fahrgastzelle und Knautschzonen verfügte. Der Sicherheit zuträglich war auch die von Bracq entworfene konkave Form des abnehmbaren Coupé-Dachs, die für höhere Stabilität bei gleichzeitig geringem Gewicht gesorgt hat. Weil dieses charakteristische Design an geschwungene Dächer fernöstlicher Tempelbauten erinnert, verlieh der Volksmund dem W113 den Beinamen Pagode.
Im März 1971 endete die Produktion des W113 nach insgesamt 48.912 Exemplaren. Seine Nachfolge trat der völlig neu konstruierte R107 an, der auch Geigers neue Handschrift trägt. Die besonderen Kennzeichen des Newcomers: Breitband-Scheinwerfer sowie geriffelte Blinker und Riesen-Heckleuchten mit beispielhafter Signalwirkung. Die hat der wie aus dem Vollen gefräste und für die Ewigkeit gebaute 107er auch in Sachen Qualität gesetzt. Übrigens: Ein Jahr danach debütierte die von Anbeginn „S-Klasse“ getaufte Luxus-Limousine der Baureihe W116 als „bestes Auto der Welt“.
Umso erzürnter war der Onkel über die „unverschämte Preispolitik.“ Für einen nackten 280 S mit Basis-Sechszylinder und „kümmerlichen“ 160 PS verlangte Mercedes 1972 mehr als 212.000 Schilling. Nur zum Vergleich: Für den ebenso neuen Ford Granada V6 3.0 mit 138 PS mussten fast hundert Blaue weniger auf den Tisch gelegt werden. Und 1973? Da stand in des Onkels Garage ein goldbrauner 350 SE mit V8-Triebwerk und satten 200 PS. Und mit einer Mehr-Ausstattung, die zumindest den Gegenwert eines Ford Consul V4 repräsentierte.
Website des Importeurs: www.mercedes-benz.at
Website des SL-Clubs: www.slclub.at
Website des MBCCÖ: www.mbcc.at
Stand: Februar 2013